Eingriffe in Tarifvertragssysteme in Europa
Vortrag von Prof. Dr. Bernd Waas,
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Kommentare:
Prof. Dr. José João Abrantes, Universität Nova de Lisboa
Prof. Dr. Ulrike Wendeling-Schröder, Leibniz Universität Hannover
Die Austeritätspolitik in Europa hat in den betroffenen Staaten zu massiven Einschnitten in Arbeitnehmerrechte und hier auch und insbesondere in die tarifvertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten geführt. Die krisenbedingten Auswirkungen auf die nationalen Regelungen sollen unter den Wertungen des deutschen Rechts betrachtet und anschliessend unter verschiedenen Blickwinkeln bewertet werden.
Torsten Walter, Bericht über die hochrangige IAO-Beobachtermission in Griechenland, AuR 2012, S 166-170.
"[…] Der griechische Mindestlohn beruht auf dem in Kraft befindlichen nationalen allg. Kollektivvertrag; es besteht kein anderer Mindestlohnmechanismus. Die Reg. hat gesetzgeberisch in die Vereinigungsfreiheit und das Recht der Kollektivverhandlungen eingegriffen, was eine Reihe von Fragen aufwirft, insbes. im Hinblick auf die Notwendigkeit der Eingriffe, die Unabhängigkeit der Sozialpartner, die Autonomie der Verhandlungsparteien und die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen in Bezug auf ihr Ziel, den Schutz der verwundbarsten Gruppen und schließlich die Möglichkeit einer Überprüfung der Maßnahmen nach einer bestimmten Zeit. Wie der Expertenausschuss in seiner 2011 veröffentlichten Betrachtung über die Anwendung des Übereinkommens Nr. 98 dargelegt hat: wenn eine Reg. als Teil ihrer Stabilitätspolitik erwägt, die Lohnhöhe nicht frei durch Kollektivverhandlungen bestimmen zu lassen, muss eine solche Beschränkung eine Ausnahme darstellen, die lediglich soweit gehen darf wie nötig, und die eine vernünftige Zeitspanne nicht überdauern darf. Es müssen mit ihr angemessene Maßnahmen zum Schutz des Lebensstandards der Arbeitnehmer einhergehen. Zwar hat die Reg. große Anstrengungen unternommen, um sicherzustellen, dass die Änderungen im Regelwerk der Arbeitsbeziehungen die Praktiken und Traditionen der Beziehungen zwischen den Sozialpartnern respektieren, aber die hochrangige Beobachtermission ist tief besorgt über die weiteren Entwicklungen auf diesem Gebiet, zu denen es nach ihrem Besuch kam, insbesondere über das Gesetz Nr. 4.024 v. 27.10.11, welches Personenvereinigungen die Möglichkeit gibt, auf Unternehmensebene Kollektivverträge abzuschließen. Die hochrangige Beobachtermission ist der Ansicht, dass Personenvereinigungen nicht Gewerkschaften sind und dass keine der für deren Unabhängigkeit nötigen Garantien für sie gelten. Die hochrangige Beobachtermission ist tief besorgt, dass der Abschluss von »Kollektivverträgen« unter solchen Umständen sich schädlich auswirkt auf Kollektivverhandlungen und die Fähigkeit der Gewerkschaftsbewegung, sich der Sorgen ihrer Mitglieder auf allen Ebenen anzunehmen, auf bestehende Arbeitgeber-verbände und somit auf jegliche feste Grundlage, auf welcher sozialer Dialog im Lande in der Zukunft stattfinden könnte. In dieser Hinsicht teilt die hochrangige Beobachtermission die ihr gegenüber von vielen Beteiligten geäußerte Sorge, dass die Änderungen im System der Arbeitsbeziehungen sich auf das System der Kollektivverhandlungen insgesamt auswirken werden, zum Schaden für den sozialen Frieden und die Gesellschaft. Die hochrangige Beobachtermission weist diesbezüglich auf die Verpflichtung Griechenlands gemäß ratifizierten Übereinkommen hin, Kollektivverhandlungen zu fördern. Es ist der Wunsch aller Sozialpartner, die Auswirkungen der Reformen auf das System der Arbeitsbeziehungen und den sozialen Dialog umfassender zu prüfen. […]"
Rechtliche Rahmenbedingungen einer funktionsfähigen Tarifautonomie in
Deutschland
Vortrag von Prof. Dr. Achim Seifert, Friedrich-Schiller-Universität Jena
Kommentare:
Dr. Thorsten Schulten, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut in der Hans-Böckler-Stiftung
Gregor Asshoff, Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt
RA Johannes Bungart, Bundesinnungsverband des Gebäudereiniger-Handwerks
Die Tarifbindung in Deutschland geht bei Beschäftigten und Arbeitgebern deutlich zurück, das Tarifvertragssystem droht zu erodieren. Die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen für wichtige Bereiche wie gemeinsame Einrichtungen wird immer schwieriger durchsetzbar. Für Beschäftigte in bestimmte Branchen bedeutet das Aus der Allgemeinverbindlicherklärung oder das hohe 50% Qourum, das nicht mehr erreicht wird, eine deutliche Verschlechterung der Entgelt- und Arbeitsbedingungen. Im Koalitionsvertrag sind Gegenmaßnahmen vorgesehen. Ihre Ausgestaltung soll Gegenstand der Diskussion sein.
Moderation: Helga Nielebock, Deutscher Gewerkschaftsbund
Prof. Dr. Bernd Waas
Ordinarius für Arbeitsrecht und Bürgerliches Recht an der Goethe Universität in Frankfurt/Main ...[mehr]
Prof. Dr. José João Abrantes
Lehrberechtigung für Privatrecht an der Universidade Nova de Lisboa (Rechtswissenschaftliche Fakultät der NOVA Universität Lissabon) ...[mehr]
Prof. Dr. Ulrike Wendeling-Schröder
Mitglied des Beirats des Hugo Sinzheimer Instituts ...[mehr]
Prof. Dr. Achim Seifert
Friedrich-Schiller-Universität Jena, Rechtswissenschaftliche Fakultät ...[mehr]
Dr. Thorsten Schulten
Wissenschaftler am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichem Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung ...[mehr]
Gregor Asshoff
Leiter der Hauptabteilung Politik und Grundsatzfragen der IG Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), seit 2007 zudem Bundesvorstandssekretär der IG BAU ...[mehr]
RA Johannes Bungart
Bundesinnungsverband des Gebäudereiniger-Handwerks ...[mehr]
Helga Nielebock
Abteilungsleiterin der Abteilung Recht beim DGB Bundesvorstand ...[mehr]
Forum 1
am 25. März, von 14.45 bis 18.15 Uhr
Pause von 16.15 bis 16.45 Uhr
FES/Haus 1, Konferenzsaal 1
Übertragung per Live-Stream hier auf der Kongresswebsite
LITERATURHINWEISE
Waas, Bernd, Tarivvertragsrecht in Zeiten der Krise, Festschrift für Otto Ernst Kempen, S. 38.
Busch, Klaus / Hermann, Christoph / Heinrichs, Karl / Schulten Thorsten, Eurokrise, Austeritätspolitik und das Europäische Sozialmodell
Publikation als pdf-Datei
Torsten Walter, Bericht über die hochrangige IAO-Beobachtermission in Griechenland, AuR 2012, S 166-170.
Der Bericht fasst die Schlussfolgerungen der IAO-Beobachtermission in Griechenland zusammen und gibt die Gesetzesänderungen in Griechenland wieder. Themen sind die Vereinigungsfreiheit und Kollektivverhandlungen, Löhne, Gleichheit und Nichtdiskriminierung sowie die Beschäftigungspolitik.
mehr…
LINKS
EuGH Urteil v. 27.11.2012, Az. C-370/12 (Vorlagefragen zum Fiskalpakt, Pringle)
Ausschuss für soziale Rechte beim Europarat (2012), Beschwerde Nr. 65/11 gegen Griechenland:
Verletzung von Art. 4 Sozialcharta durch Möglichkeit zur Entlassung ohne Kündigungsfrist oder Abfindung während der Probezeit in einem unbefristeten Vertrag. Es liegt keine Verletzung von Art. 3 §1 des Zusatzprotokolls vor, da dieses nicht das Recht auf Kollektivverhandlungen betrifft; dieses Recht wird von Art. 5 und 6 der Charta abgedeckt, aber kann nicht überprüft werden, da diese Art. von Griechenland nicht ratifiziert wurden.
Ausschuss für soziale Rechte beim Europarat (2012), Beschwerde Nr. 66/11 gegen Griechenland:
Die Wirtschaftskrise darf nicht zur Folge haben, dass der Schutz der von der Sozialcharta anerkannten Rechte verringert wird. Somit müssen die Regierungen alle notwendigen Schritte unternehmen, damit die Rechte der Charta effektiv gewährleistet werden, gerade in einer Periode, in der die Begünstigen diesen Schutz am notwendigsten brauchen. (Betraf Maßnahmen zur Senkung des Mindestlohnes und Arbeitsbedingungen).
Ausschuss für soziale Rechte beim Europarat (2012), Beschwerde Nr. 76-79/12 gegen Griechenland:
Die vier Beschwerdeführer, griechische Gewerkschaften. hatten die massiven Kürzungen bei den Leistungen der sozialen Sicherheit im privaten und im öffentlichen Sektor, insbesondere in Bezug auf Pensionsansprüche kritisiert. Der Ausschuss stellte eine Verletzung des Rechts auf soziale Sicherheit, Art. 12 § 1 Sozialcharta, fest. Zu den einzelnen Entscheidungen…
Beschwerde Nr. 76/12
Beschwerde Nr. 77/12
Beschwerde Nr. 78/12
Beschwerde Nr. 79/12
Austeritätspolitik und Menschenrechte
Rechtsgutachten im Auftrag der Kammer für Arbeiter/innen und Angestellte für Wien
Auswertung der Troika-Arbeit: Anhörungen und Delegations-Besuche
LITERATURHINWEISE
Greiner, Stefan / Hanau, Peter / Preis, Ulrich, Die Sicherung der Allgemeinverbindlichkeit bei gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, Rechtsgutachten.
Seifert, Achim, Der Tarifausschuss beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Festschrift für Otto Ernst Kempen, S. 196.
Treber, Jürgen, Gerichtliche Kontrolle von Allgemeinverbindlicherklärungen und Rechtsverordnungen nach dem AentG, Festschrift für Klaus Bepler zum 65. Geburtstag, S. 565.
Düwell, Franz Joseph, Die gerichtliche Überprüfung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, NZA Beilage 2/2011, S. 80.
LINKS
WSI Mitteilung 7/2012, Schwerpunktheft: Stabilisierung des Flächentarifvertrages - Reform der Allgemeinverbindlicherklärung
DGB Thema: Allgemeinverbindlicherklärungen - Für sozialen und betrieblichen Frieden
DGB Tagung: Tarifvertrag – allgemein, verbindlich, stark!
Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zur Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages für das Hotel- und Gaststättengewerbe,
Urteil vom 16. November 2012 – 4 A 46/11 –, juris